Die Geschichte der Kanonenbahn im Eichsfeld

Im Obereichsfeld – einer Region in Nordthüringen – westlich von Mühlhausen – in den romantischen Tälern der Frieda und Lutter, schlängelt sich wohl einer der imposantesten Eisenbahnlinien Deutschlands durch Berge und Täler. Von Dingelstädt bis Frieda durchfuhr die Bahn einst 6 Tunnel und überquerte 4 Viadukte insbesondere das einmalige, den ganzen Ort Lengenfeld unterm Stein überspannende Eisenbahnviadukt.

Doch was führte zur Errichtung dieser einmaligen Strecke? Eine Antwort hierauf findet sich in einem Aufsatz, der 1955 im Eichsfelder Heimatborn veröffentlicht wurde, und nachfolgend zu lesen ist:

„Aus der Isenbahnziet“

Im Februar des Jahres 1875 begann mit dem Bau der Bahnstrecke Leinefelde – Eschwege. Am 15. Mai 1880 wurde sie zum ersten Male befahren und dem Verkehr übergeben. Die Bauzeit, welche also gut fünf Jahre dauerte, lebte noch lange fort in der Erinnerung der alten Leute. Bei ihren Erzählungen sprachen sie besonders gern von der „Isenbahnziet“.

Versetzen wir uns im Geist in jene Zeit, da in unsere ruhigen und bis dahin von aller Welt abgeschlossenen Dörfer des Obereichsfeldes und des Friedatales große Kolonnen fremdländischer Arbeiter, besonders Italiener, einzogen, die nun hier fünf Jahre lebten und werkten! Dass unsere Bewohner dabei allerlei Episoden erlebten, die sie für ihr ganzes Leben in Erinnerung behielten, ist begreiflich. Es war ein Umsturz ihres vorhergegangenen ruhigen Lebens. – Auch die Einwohner fanden in dieser Eisenbahnzeit besser bezahlte Arbeit.

Besonders gut verdienten die Bauern und Gespannhalter, die für ein Pferdegespann täglich 17 Mark erhielten. Der Bau in dieser Zeit ist buchstäblich nur mit Hacke und Schippe ausgeführt worden. Alle Erd- und Steinbewegungen sowie alle Materialanfuhren mussten mit Pferde- und Ochsengespannen bewältigt werden. Den Bewohnern boten sich allgemein große wirtschaftliche Vorteile. Die bisher bestehenden Geschäfte konnten die Herbeischaffung von Lebensmitteln allein nicht mehr bewältigen, und so wurden viele neue Geschäfte, auch Fleischereien eröffnet.

Längs der abgesteckten Strecke wurden für die fremdländischen Arbeiter in der Nähe ihrer Arbeitsplätze Kantinen errichtet. In ihnen ging es stets äußerst lebhaft zu. Streitigkeiten mit Schlägereien und Blutvergießen verbunden, gehörten zur Tagesordnung. So hatte auch die Gendarmerie ihr volles Maß Arbeit mitbekommen.

Doch auch Unfälle blieben nicht aus. Im Schwebdaer Tunnel waren einmal die Arbeiter und Gespanne durch Deckenbruch eingeschlossen, aber dann doch alle, Mensch wie Vieh, wieder lebend befreit worden. In Lengenfeld unterm Stein wurde im Hotel Grundmann durch leichtsinniges Hantieren mit Dynamit-Sprengpatronen ein Mensch getötet. Desgleichen erzählt der Volksmund, dass an der Strecke zwischen Lengenfeld und Geismar ein Italiener von einem Landsmann erstochen und irgendwo heimlich verscharrt worden sei.

Doch nun zum Bahnbau selbst. Auf der 46 km langen Strecke von Leinefelde bis Eschwege mussten große landschaftliche Schwierigkeiten überwunden werden. Fünf Berge wurden durch sechs Tunnel durchbrochen. Dazu kam noch eine Höhendifferenz von 264 m. Der Bahnhof Küllstedt als höchster Punkt der Strecke liegt 425 m über dem Meeresspiegel. Desgleichen bildete auch die Überbrückung des oberen Friedatales bei Lengenfeld unterm Stein eine Hauptschwierigkeit. Dreimal steckten die Ingenieure die Strecke bis vor Faulungen ab. Um aber die bekannte große U-Schleife nicht noch mehr zu verlängern, entschlossen sie sich doch zum Brückenbau über Lengenfeld unterm Stein. Die Häuser, welche dem Brückenbau im Wege standen, wurden abgerissen; einige davon an anderen Stellen wieder aufgebaut.

Als die Bahn 1880 in Betrieb genommen wurde, waren nur die vollen Bahnhöfe mit Güterverkehr (Dingelstädt, Küllstedt und Geismar) vorhanden. Die jetzt außerdem bestehenden Haltestellen wurden alle später angelegt. So erhielt Lengenfeld unterm Stein seine erste Haltestelle gleich am Ende der Brücke 1886. Der heutige Vollbahnhof wurde dann 1908 etwa 400 m westlich angelegt. Für Effelder und Großbartloff war zuerst eine gemeinschaftliche Haltestelle am Rottenbach geplant, schließlich aber erhielt jede Gemeinde eine eigene.

Das Tor zur Welt war aufgetan mit Inbetriebnahme der Bahn. Die Folge war: Hinaus mit Reff und Arbeitsdrang. Man brauchte nun nicht mehr, wenn man mit der Bahn fahren musste, nach Leinefelde oder gar wie die Mädchen, welche ins Magdeburgische zum Rübenroden oder Spargelstechen wollten, bis Nordhausen zu laufen. Außerdem erschloss die Bahn auch eine Fülle natürlicher und landschaftlicher Schönheiten der Eichsfelder Höhe und des Südeichsfeldes, das bis dahin im Vaterland völlig unbekannt bzw. als arme und kalte Gegend verschrien war. Wie hat sich das in den Jahren geändert. Heute finden allein Im FDGB-Heim Bischofstein jährlich weit über 1000 Werktätige Entspannung und Erholung.

Die Bahn ist seinerzeit nicht etwa aus Fürsorge, um der wirtschaftlichen Notlage entgegenzuwirken und zur Erschließung des Verkehrs für die Anwohner erbaut worden, sondern sollte der Entlastung der Berlin-Koblenzer Bahn dienen, besondere im Kriegsfalle. Sie erhielt daher von den alten Leuten den Namen „Kanonenbahn“. Dieser Name erhielt seine Berechtigung im ersten Weltkriege, wo täglich die Militärtransportzüge hier rollten. Die Baukosten der Bahn betrugen 17 Millionen Mark und der Volksmund wollte sogar wissen, diese wären von den Kriegskosten bezahlt worden, die Frankreich 1871 an Deutschland gezahlt habe. Im Versailler Friedensvertrag kam die rächende Vergeltung. Die Bahn wurde zur Eingleisigkeit verurteilt.

Und dann kam der größte Schlag. Durch die Errichtung der widersinnigen Demarkationslinie mitten durch Deutschland wurde ihr der Lebensnerv genommen. Geismar ist heute Endstation, und ihre Aufgabe, die Verbindung zwischen West und Ost, kann sie nicht mehr erfüllen. Der Wunsch aller Einwohner der an der Strecke liegenden Ortschaften ist es, dass die Bahn bald wieder in einem vereinten Vaterlande dem Frieden und dem Aufbau dienen möge.

Autor: L. R. L.
(Quelle: Eichsfelder Heimatborn, 1955)

Bahnhöfe und Kunstbauten auf der Strecke Dingelstädt – Frieda

  • Der Bahnhof Dingelstädt (km 10,68), zur Streckeneinweihung am 15. Mai 1880 eröffnet, war mit 5 Gleisen ausgestattet. Am 4. August 1996 wurde der Personenverkehr zwischen Leinefelde und Dingelstädt eingestellt.
  • Am 1. Dezember 1903 erhält Kefferhausen einen Haltepunkt. Bei Kilometer 12,68 steht das eingeschossige Fachwerkgebäude.
  • Die Unstrutbrücke bei Kefferhausen: 53 lang und 26 m hoch, 3 Öffnungen zu je 13 m Spannweite
  • Im Bahnhofsbereich Küllstedt (km 17,10), eingerichtet 1880, befanden sich 8 Gleise und für kurze Zeit eine Drehscheibe. Am 29. Mai 1994 wurde der Personenverkehr zwischen Dingelstädt und Küllstedt eingestellt.
  • Die Gießebrücke bei Büttstedt: 39 m lang und 17,5 m hoch, am 6. April 1945 gesprengt und wieder als Notbrücke aufgebaut und ab dem 31.12.1945 wieder befahrbar.
  • Der Küllstedter Tunnel mit 1530 m Länge war zur Bauzeit der drittlängste Tunnel des Deutschen Reiches. Er liegt an der Wasserscheide zwischen Elbe und Weser. Auffällig sind die reich geschmückten Portale.
  • Der Mühlenberg1-Tunnel mit 155 m Länge ist der kürzeste der 6 Tunnel.
  • Der Haltepunkt Effelder (km 23,85) wurde am 1. Dezember 1905 eingerichtet. Am 21. November 1990 wurde das Empfangsgebäude leider durch einen Brand zerstört und ist heute nicht mehr erhalten.
  • Es folgt der Mühlenberg2-Tunnel mit 343 m Länge.
  • Mit einer Krümmung von 400 m und einer Länge von 198 m reiht sich der Heiligenbergtunnel an.
  • Schon früh, am 1. Dezember 1894, wurde der Haltepunkt Großbartloff (km 25,85) eröffnet.
  • Der Entenbergtunnel, 288 m lang, wurde 1915 um 7 m verlängert.
  • Bemerkenswertestes Bauwerk deutscher Ingenieurbaukunst ist der Lengenfelder Viadukt. Mit 244 m Länge, 24 m Höhe und 8 Öffnungen überspannt es das Dorf Lengenfeld unterm Stein.
  • Der jetzige Bahnhof Lengenfeld unterm Stein (km 31,35) wurde am 16. Dezember 1908 eröffnet.
  • Am Bahnhof Geismar (km 34,66) waren 4 Gleise eingerichtet. Der letzte Zug fuhr von hier am 31. Dezember 1992.
  • Das Friedaviadukt, 26 m hoch und 99 m lang, zwischen Großtöpfer und Frieda, wurde am 3. April 1945 gesprengt.

Der Dachsbergtunnel, 1066 m lang, wurde in den 1980er Jahren verschlossen. Jedoch zieren die Tunnelportale noch diesen aufwendigen Bau.

Blick aus Dachsbergtunnel zum Hülfensberg
Frieda Viadukt mit Huelfensberg

Der Viadukt von Lengenfeld

Das Wahrzeichen des Taldorfes Lengenfeld unterm Stein ist der weit das Dorf überspannende Eisenbahnviadukt. Dieser Viadukt ist über 125 Jahre alt. Was führte zu seiner Errichtung? – Bereits 1875 wurde mit dem Unterbau begonnen. Es galt, das Fundament, die 7 Brückenpfeiler und die beiden Brückenköpfe in Angriff zu nehmen. Die Mauerarbeiten am Viadukt wurden im Juni 1877 begonnen und im Herbst 1878 beendet.

Für die Pfeiler mit einem Fußumfang von je 18 Metern wurden die sehr harten Muschelkalksteine aus den Eigenrieder und Strüther Brüchen angefahren. Dazu schafften sich damals mehrere Fuhrunternehmer ein zweites und auch ein drittes Pferd an. Im Bereich des Baugeländes mussten 11 Wohn- und Wirtschaftsgebäude abgebrochen werden. Die zum Bau herangezogenen ausländischen Arbeiter (vor allem Italiener) waren in Baracken auf dem nahen Bischofstein untergebracht. Es halfen auch einige einheimische Saisonarbeiter. Die umfangreichen Bauarbeiten, die im August 1879 vollendet werden konnten, waren teilweise recht schwierig – wegen des felsigen und hügeligen Geländes.

Mehrere Bergeinschnitte, Bergrücken und Tunnel mussten bewältigt werden und schafften mancherlei Probleme. Die Brücke hat eine Höhe von 28,5 Metern und zieht sich in einer Länge von 260 Metern über Lengenfeld hin. Die Eisenteile des Tragwerkes und des Oberbaues stammen aus Ruhr-Werkstätten. Ein altes Lengenfelder Tagebuch, das vom Bauern und Ziegeleibesitzer Joseph Hahn von 1832-1881 geführt wurde, übermittelt, wann die erste Testfahrt auf dem Viadukt vollzogen wurde: „Den 8. September 1879 ist der Eisenbahnzug mit der Lokomotive das erste Mal mit Sand auf der Eisenbahnbrücke über das Dorf gefahren.“

Der Beweggrund zum Bau des Viaduktes lag einmal in strategischen Erwägungen, da nach dem Deutsch-Französischen Krieg (1870-1871) die neu gewonnen Gebiete schnell erreichbar sein sollten. Zu diesem Zweck wurde die so genannte „Kanonenbahn“, ursprünglich aus militärischen Gründen, errichtet, Zum anderen sollte das damals noch sehr weitmaschige Eisenbahnnetz mit der Verbindung Leinefelde/Hessen eine weitere Verbesserung erfahren. Als in den Apriltagen 1945 ein Pionierkommando den Viadukt sprengen wollte, setzte sich der damalige Bürgermeister Franz Müller in kluger Verhandlungstaktik dafür ein, dass man davon abließ und somit größeres Unheil für das Dorf und das Friedatal verhindert wurde.

Quelle: „Eichsfelder Heimatstimmen“, Heft 11/November 1984